von Thomas Drachenberg

Höhe-Punkte in unserer Landschaft

Tradition und Wandel aus Sicht der Denkmalpflege.

Prof. Dr. Thomas Drachenberg ist Kunsthistoriker. Seit 2012 ist er brandenburgischer Landeskonservator und stellvertretender Direktor des brandenburgischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologischen Landesmuseums.

Foto: BLDAM, Dieter Möller
Marienkirche in Frankfurt (Oder)

Die Wochenzeitschrift DIE KIRCHE stellte in ihrer Ausgabe vom 5. Juni 2016 fest: „Das Kirchenbauinstitut in Marburg prognostizierte vor etwa zehn Jahren, dass möglicherweise ein Drittel der 45.000 Kirchen in Deutschland verkauft oder abgerissen werden müsste. Ein Gruselfall, der bisher so nicht eingetreten ist.“

Wozu kümmern wir uns denn überhaupt um die Kirchen? Ist es nicht angesichts dieses Szenarios völlig aussichtslos, sich gegen diese Prognose anzustemmen?

Haben wir nicht gerade auf dem Gebiet der ehemaligen DDR eine beispiellose Entchristianisierung oder Entkirchlichung erlebt, sodass die Mitgliederzahlen der großen Kirchen – im Land Brandenburg vor allem der evangelischen Kirche – bis heute stetig und dramatisch abnehmen? Mit schrumpfenden Mitgliederzahlen nimmt automatisch die Anzahl der Gemeinden pro Pfarrer zu. 15 Gemeinden pro Seelsorgerin oder Seelsorger sind keine Seltenheit mehr in den peripheren Gebieten des Landes. Die Folge davon ist, dass die Dorfkirchen immer weniger genutzt werden, sie irgendwann gar nicht mehr „gebraucht“ werden. Geht eine Kultur zu Ende und die scheinbar unbrauchbaren Gebäude können abgerissen werden? Wir beobachten sogar, dass sanierte und restaurierte Dorfkirchen von diesem Prozess der Nicht-Nutzung erfasst werden.

Wie ist die Position der Denkmalpflege zu dieser scheinbar nicht aufzuhaltenden Entwicklung?

Foto: BLDAM, Thomas Drachenberg
Innenraum der Stadtpfarrkirche Müncheberg (MOL) mit modernem Einbau

Ein Blick in die Geschichte hilft, „die Kirche im Dorf zu lassen“: Vor allem die Stadtkirchen waren im Mittelalter Träger der askanischen Territorialpolitik und markieren die Gründungszeit des Landes. Sie bilden bis heute mit ihrem Reichtum die Blütezeit der märkischen Städte im 14. und 15. Jahrhundert ab. Dorfkirchen sind auch ein Spiegel patrimonialer Stiftungstätigkeit. Die Zeugnisse dieser Prozesse vom 14. bis zum 20. Jahrhundert reichen von der wandfesten Ausstattung mit Wandmalereien bis zu Epitaphien, Totenkronen und weiteren Objekten der Gedächtniskultur. Das „Leben auf dem Lande“ mit Gutsherrschaften und dörflichen Gemeinschaften und deren Bezug zur Kirche bildet sich bis heute oft noch im Gestühl, den Emporen und in vielen kleineren Zeugnissen ab. Die Reformation bedeutete vor allem bauliche Konsequenzen und oft eine Neueinrichtung der Kirchräume nach nun aktualisierter Liturgie.

Im frühen 19. Jahrhundert gab es erste durch Ferdinand von Quast und Karl-Friedrich Schinkel formulierte und praktizierte denkmalpflegerische Ansätze der Bewahrung im denkmalpflegerischen Sinne. Im ausgehenden 19. Jahrhundert folgte das historistisch geprägte Bauprogramm zur Rückgewinnung der verlorengegangenen Arbeiterschaft durch das Kaiserhaus der Hohenzollern. Der Zweite Weltkrieg brachte entweder direkte Schäden, auf alle Fälle aber einen großen Reparaturstau. Zu DDR-Zeiten wurden viele Kirchen vor allem in den 1960er Jahren restauriert und gleichzeitig modernisiert, indem man sich nach dem Geschmack der Zeit von Teilen der Ausstattung trennte und neue hinzufügte. Vieles konnte aus baupolitischer Not nicht gemacht werden.

Nach 1989 kam es dagegen zu einem beispiellosen Sicherungs- und Restaurierungsprogramm, das sehr wirksam und erfolgreich war. Im Ergebnis musste im Land Brandenburg keine denkmalgeschützte Kirche bis zum heutigen Tage abgerissen werden! Das ist vor allem auch ein Erfolg der örtlich dann sehr vehement agierenden Initiativen und Vereine!

Die meisten Kirchenbauten sind aktuell denkmalgeschützt, weil sie mit ihrer Bauqualität bis heute von den Erhaltungsbemühungen, den traditionell auch unterschiedlichen Nutzungskonzepten z. B. der vorreformatorischen und nachreformatorischen Zeit erzählen können. Kirchenbauten können bauhistorisch und kunsthistorisch, liturgisch und sozialgeschichtlich gelesen werden und wir erfahren viel über unsere eigene Kultur und Frömmigkeitsgeschichte.

Foto: Architekturbüro Fleege + Oeser
Dorfkirche Rogäsen (PM) 1998

Kirchenbauten bieten aber auch mit ihrer Geschichte den Raum für Geschichten, die von den unterschiedlichen Erlebnissen mit den Gebäuden berichten: Taufe, Konfirmation, Hochzeit und Begräbnisgottesdienst sind die traditionellen Nutzungsformen. Raum für Feiern, der Ort der Auseinandersetzung im Dritten Reich zwischen Deutschen Christen und den Anhängern der Bekennenden Kirche, Schutzraum für freies Denken zu DDR-Zeiten bis zum heute aktuellen Fluchtpunkt für Flüchtlinge im Kirchenasyl – die Erinnerungen und die Geschichten, die Menschen mit dem Bauwerk verbinden, sind unterschiedlich und mannigfaltig.

Und dann gibt es noch einen ganz wesentlichen Punkt: Stadt- und Dorfkirchen markieren Siedlungskerne und sind fast immer architektonische Höhe-Punkte. Sie haben eine städtebauliche Dominanz, die von den meisten Mitgliedern der Kommune vor Ort geschätzt wird. Über den Ort für geistliche Erbauung und Trost hinaus sind die Kirchbauwerke für unsere Gesellschaft wichtige Ankerpunkte des Zusammenlebens.

Foto: Architekturbüro Fleege + Oeser
Dorfkirche Rogäsen (PM) 2016

Kirchen sind – so sie die verschiedenen historischen Zerstörungswellen überlebt haben – die Träger von sakraler Kunst, die einen unschätzbaren Wert für unsere Gesellschaft hat. Altäre, Figuren, Wand- und Glasmalereien zeigen heute noch das damalige liturgische Verständnis. Sie geben Auskunft über die in der Geschichte sich wandelnden Vorstellungen von Transzendenz. Um es einfacher zu sagen: Sie erzählen uns davon, welche Glaubenspraxis vorherrschte. Die Kontinuität des Ortes und damit des Raumes stand und steht immer im Wandel – ja der Wandel ist vielleicht sogar die Kontinuität! Vielleicht immer etwas bedächtiger und langsamer als an anderen Orten – aber auch die Dorf- und Stadtpfarrkirchen selbst stehen im Wandel.

Für den Denkmalpfleger ist der Kirchenbau selbst ein erstklassiger Schatz. Auch wir stehen dabei in einer Tradition unserer Vorfahren: Wir versuchen die Eigentümer so zu beraten, damit die wertvolle Substanz mit ihren vielen zeitlichen Schichten erhalten und das Erscheinungsbild bewahrt und in diesem Bewusstsein – wenn notwendig – eine neue Schicht hinzugefügt werden kann.

An dieser Stelle ist es gut daran zu erinnern, dass gerade die Erhaltung der Ruinen der kriegszerstörten Großkirchen, wie zum Beispiel die Marienkirchen in Frankfurt/Oder und in Beeskow in der DDR eine denkmalpflegerische Daueraufgabe waren. Die Bemühungen waren langwierig und die Fortschritte mangels Baukapazität sichtbar, aber sehr mühsam errungen und oft von Rückschlägen und Abrissszenarien bedroht. Ab 1989 konnte auf diese Erhaltungsbemühungen aufgebaut und mit der schon zu DDR-Zeiten entwickelten denkmalpflegerischen Leitlinie „Ruine unter Dach“ nachhaltige Fortschritte erreicht werden. Aus heutiger Sicht können wir bilanzieren: Das war ein auf Sicherung und jederzeit möglichen Weiterbau ausgerichtetes kluges Konzept, das das Ruinöse als tragendes Element (zeitweilig oder dauerhaft) einbezog.

Foto: BLDAM; Thomas Drachenberg
Innenraum der ehemaligen Franziskanerklosterkirche Prenzlau

Eine dauerhafte Sicherung und Nutzung kann nur dann nachhaltig sein, wenn die Zivilgesellschaft, die sich weiter entwickelt, das Gebäude auch annimmt. Gerade an der Marienkirche in Frankfurt an der Oder ist sehr deutlich zu sehen, wie durch die einmalige Chance des Wiedereinbaus der aus Russland zurückgekehrten mittelalterlichen Glasfenster und die Ergänzung der fehlenden Teile durch Neuschöpfungen es völlig folgerichtig war, das Chorgewölbe im rekonstruktiven Sinne wieder einzubauen. Derzeit beginnt eine neue Dynamik der Beschäftigung mit dem Bauwerk vor Ort. Wir erleben zur Zeit, wie das in den 1980/90er Jahren tragfähige Konzept der „Ruine unter Dach“ nicht statisch ist, sondern durch die fortschreitende Aneignung des Baus sowohl als Ort der christlichen Gemeinde wie auch als sozialer und städtebaulicher Identifikationspunkt nun unter dem Label „Bürgerkirche“ weiter geschrieben wird.

Aber für wen tun wir das? Man könnte kurz antworten: Baukultur ist eines der wesentlichen Fundamente unserer Gesellschaft – aber das ist zu einfach.

Wenn wir Denkmalpfleger uns was wünschen dürften, dann würden wir sagen: Eine Nutzungskontinuität, d. h. die andauernde Benutzung als Sakralraum ist, was den Grad der notwendigen Veränderungen angeht, immer noch der Idealfall. Die Kirchengemeinde selbst ist am besten in der Lage, mit ihrer gebauten Geschichte verantwortungsvoll umzugehen, weil es ihre eigene Geschichte ist.

Aber was ist, wenn diese Kontinuität abgebrochen ist – muss dann das Gebäude auch verschwinden? Hier müssen wir als Denkmalpfleger ein ganz klares NEIN formulieren. Auch wenn ein Kirchengebäude nicht mehr als Ort für den Gottesdienst benutzt wird, kann der baukulturelle Wert des Gebäudes unermesslich für die ganze Gesellschaft sein! Der städtebauliche Wert, die Qualität der Architektur oder die wertvollen Kunstgegenstände oder alle drei Komponenten zusammen sind aus unserer Kulturlandschaft nicht wegzudenken.

Derzeit beobachten wir im Land Brandenburg, dass in den letzten 30 Jahren Prozesse in parallelen Linien verlaufen:

Zum einen gibt es viele Kirchengemeinden, die sich ihrer Tradition und des Wertes ihres Kirchgebäudes bewusst sind und große Anstrengungen aufbringen, um eine dauerhafte Erhaltung und Weiternutzung zu erreichen. Zum anderen gibt es aber angesichts der Entwicklung der evangelischen Kirche von der Mehrheits- zur Kirche einer Minderheit immer mehr Gebäude, die nicht mehr oder nicht mehr genügend von den christlichen Gemeinden genutzt werden. Es gibt mittlerweile hunderte von Vereinen, die sich die Rettung „ihrer“ Kirche zum Ziel gesetzt haben. Das christliche Netzwerk ist grobmaschiger geworden und wird durch ein neues „profanes“ Netzwerk ergänzt. Ein großer Erfolg aller Beteiligten! Derzeit findet ein Transformationsprozess statt, der die christlichen Gemeinden offener werden lässt der Kommune gegenüber und umgekehrt. Es entstehen neue Formen der Zusammenarbeit.

Beide Prozesse – die weiterhin aktive christliche Gemeindearbeit und ein neues bürgerschaftliches Engagement für eine Weiter- und Umnutzung der Kirchgebäude – bedürfen der Unterstützung. Wir Denkmalpfleger stehen für eine denkmalfachliche Beratung zur Verfügung, die das Ziel hat, das Machbare zu erreichen und dabei die Substanz und das Erscheinungsbild zu erhalten.

Foto: BLDAM, Thomas Drachenberg
Innenraum der St. Sabinenkirche in Prenzlau

Dabei sind uns neben den unteren Denkmalschutzbehörden das Kirchliche Bauamt in der EKBO und die Bauverantwortlichen in den Kirchenkreisen zuverlässige und geschätzte Ansprechpartner. Der Förderkreis Alte Kirchen Berlin-Brandenburg hat es geschafft, sowohl die Kirchengemeinden als auch die Vereins-Netzwerke in ihrem Anliegen zu unterstützen und untereinander wiederum zu vernetzen. Das ist für uns eine unschätzbare Hilfe in der Kommunikation und eine starke Stimme in der Gesellschaft!

Wir sind nach unseren Beobachtungen derzeit an dem Punkt, wo wir darauf achten müssen, dass die Sicherung und Restaurierung von Kirchengebäuden auch nachhaltig ist. Die Baupflege muss kontinuierlich passieren, um von den großen Kampagnen wegzukommen und beginnende Schäden schon frühzeitig zu erkennen und nicht erst, wenn alles zu spät ist. Aber wer soll diese Baupflege übernehmen? Hier muss dem Denkmaleigentümer Wissen an die Hand gegeben und es müssen neue Formen einer Zusammenarbeit ausprobiert werden.

Unsere Baukultur, d. h. die Denkmale im Bestand brauchen und haben eine Zukunft. Es kommt darauf an, die örtlichen initiativen zu stärken und auch mit dem denkmalpflegerischen Fachverstand zu vernetzen. In diesem Sinne: Lassen wir die Kirche im Dorf und in der Stadt! Sie ist für unsere Herkunft, Gegenwart und Zukunft wichtig!

Wir gratulieren zum dreißigjährigen Bestehen des Förderkreises Alte Kirchen Berlin-Brandenburg, der nicht nur uns ein wertvoller strategischer und praktischer Partner landesweit und vor Ort ist!

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