von Konrad Mrusek

„Sog ist besser als Druck, um Mitstreiter zu gewinnen“

Berliner Kirchenretter in der Provinz

Konrad Mrusek ist Journalist und Mitglied im Vorstand des Förderkreises Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e. V.

Foto: Konrad Mrusek
Andreas Winter vor der Dorfkirche Stegelitz

Immer mehr Berliner wandern ins Umland. Selbst jenseits des „Speckgürtels“ der Metropole scheinen einige Dörfer wieder zu wachsen. Dies könnte auch den Dorfkirchen helfen, wenn die Neuen sich in die Gemeinschaft integrieren und für neues Leben sorgen. Im Vorjahr zogen etwa 16.000 Menschen mehr aus der Stadt hinaus aufs Land als nach Berlin hinein. Vor fünf Jahren war dieser Wanderungssaldo erst halb so groß. Es sind nicht allein höhere Mieten, die Familien ins Umland treiben. Auch so manche Rentner flüchten vor Lärm, Auto-Gestank und Enge, wollen es in der dritten Phase ihres Lebens ruhiger und schöner haben.

Selbst die hippen Kreativen aus der Internet-Branche, für die bisher das urbane Leben rund um den Prenzlauer Berg zum sehr angesagten „life style“ gehörte, lockt inzwischen die Provinz. Diese Stadtflüchtlinge suchen nicht, wie einst die Wandervögel vor hundert Jahren, die blaue Blume, sie wollen auf dem Land digital tätig sein. Man kauft alte Bauernhäuser oder gründet sogenannte Ko-Dörfer (neudeutsch: co-working spaces), also Orte des gemeinsamen Lebens und Arbeitens. In einer Studie des Berlin-Instituts über „Urbane Dörfer“ wurden rund um Berlin nicht weniger als vierzehn solcher Projekte aufgelistet – von Wiesenburg im Westen der Mark bis hin nach Prädikow und Stolzenhagen im Osten Brandenburgs.

Foto: Konrad Mrusek
Monas Zeichnung

Helfen diese Projekte den Dörfern, oder sind es nur digitale Inseln, Parallelwelten von Netz-Nomaden im Berliner Umland? Erste Erfahrungen sind positiv. Simona Koß, die Vorsitzende des Fördervereins Dorfkirche Prädikow: „Die Hofgruppe bringt sich aktiv ins Dorfleben ein, einige von ihnen sind Mitglieder im Verein Kultur und Landleben, wieder andere beteiligen sich aktiv an den Aktivitäten in und an der Dorfkirche.“ Auch wenn die digitalen Neusiedler nicht überall so engagiert sein mögen, so lehrt doch die Geschichte, dass neue Entwicklungen oft klein in Nischen beginnen, dann vielleicht zu etwas Größerem werden. Auf jeden Fall ist es vorteilhaft, wenn neue Ideen demographisch ausgelaugte Dörfer revitalisieren. Dort fehlen oft die lokalen „Macher“, dann sind es gerade die Neuen, die etwas bewegen. Dies gelingt, wenn die Neu-Bürger sich nicht wie neunmalkluge Besserwisser aufspielen, sondern sich in die Dorfgemeinschaft einfügen. Dann passieren mitunter erstaunliche Dinge, wie drei neue Fördervereine in der Uckermark beweisen – in Stegelitz, Wilmersdorf und Flemsdorf. Diese Dörfer liegen etwa neunzig Kilometer nördlich von Berlin.

Andreas Winter (55), der sich als Stadtflüchtling bezeichnet, war noch gar nicht in die Alte Schule von Stegelitz eingezogen, als er und seine Lebensgefährtin Mona Danz im November 2017 ein simples, von Hand gestaltetes Flugblatt in die Briefkästen der 200 Dorfbewohner steckten. „Warum läutet die Glocke nicht mehr?“ schrieben sie und luden zur Info-Versammlung für die Dorfkirche. Statt der vier bis zehn Leute, die Pfarrerin und Bürgermeister prophezeiten, kamen 37 Interessierte. Heute hat der Förderverein 130 Mitglieder; die Hälfte sind Auswärtige, unter anderem Radler, die in der Pension der Alten Schule übernachteten. Das marode Gebälk der Dorfkirche wird inzwischen gesichert und Andreas Winter plant schon die weitere Sanierung, nachdem allein ein Spendenaufruf der Deutschen Stiftung Denkmalschutz fast 100.000 Euro erbrachte.

Wie schafft man dieses Gemeinschaftswerk in einem eher tristen Straßendorf? „Es gibt da keinen Trick“, sagt Winter, „ man muss authentisch sein, nicht schwätzen, sondern erst mal zuhören, die Leute ernst nehmen und dann machen.“ Wo könne man denn sonst noch durch einfaches Handeln so viel bewirken? Andreas Winter, der als Fotograf arbeitet, fühlt sich dabei keineswegs als großherziger Altruist, der überhaupt nicht an sich denkt. Das funktioniert seiner Ansicht nach auch nicht. Wer Energie gebe, müsse auch Energie nehmen, um die persönliche Balance zu erhalten. „Die Energie, die man hier aussendet, die kommt auch wieder zurück, das ist doch ein Naturgesetz. In unserer Gesellschaft wird aber leider Energie oft mit Geld verwechselt. Das ist pathologisch.“

Die Energie, die Winter (er stammt aus Chemnitz, seine Partnerin ist Uckermärkerin) in dieses Kirchen-Projekt steckt, ist gleichwohl überraschend. „Ich bin kein Christ, sondern vielleicht Agnostiker. Spiritualität und Demut vor dem Leben, das treibt mich an“. Die Alte Schule hat er auch deshalb gekauft, weil nebenan auf dem Foto die Feldsteinkirche aus dem 13. Jahrhundert zu sehen war. Er hat ein Faible für kunstvoll behauenen Feldstein und traditionelles Handwerk. Daher war er empört, als er von einem möglichen Verkauf der Kirche erfuhr. „Ein Gotteshaus kann man doch nicht verkaufen. Das ist ein Kulturgut.“ Er sei zwar nicht gläubig im kirchlichen Sinne, aber er glaube daran, dass Menschen eine Gemeinschaft brauchen. Die könne man mit solch einem Projekt schaffen, und es sei stets eine Freude, in die Gesichter der Dörfler zu schauen, wenn sie zu einer der Arbeitsaktionen kommen. Auch den ein oder anderen, die von der politischen Willkür in der Wendezeit gebeutelt worden seien, könne man auf diese Weise wieder in die Gemeinschaft holen. „Sog ist besser als Druck, um Mitstreiter zu gewinnen“. Ein derartiger Sog entstehe, so Winter, wenn der Nachbar einen frage, ob man auch hingehe und mit anpacke.

Auch Günter Simon (73) bezeichnet sich als Stadtflüchtling, der nach vielen Jahren des beruflichen Umherwanderns in Westdeutschland und West-Berlin für das Rentnerleben eine ländliche Heimat suchte. Er zog 2012 nach Wilmersdorf, weil ihm dort die aktive Dorfgemeinschaft der 240 Einwohner behagte. Er wohnt zur Miete im ehemaligen Bahnhofsgebäude. Die Fahrt nach Berlin, wo noch seine Partnerin wohnt, dauert rund eine Stunde.

Foto: Konrad Mrusek
Bettina Locklair und Günter Simon

Von Beginn an nahm Simon teil an den Aktivitäten im Dorf, fuhr mit beim sogenannten Radler-Frühling nach Angermünde, singt sogar als einziger Mann Volkslieder in einem Frauenchor. Er schwärmt von den vielen Kontakten, die gemeinsames Singen ermögliche. Als religiöser Mensch besuchte er den Gottesdienst. Als der Landpfarrer nach 30 Jahren auf eine neue Stelle in der Stadt wechselte, verwaiste die Pfarrstelle und die Gemeinde erfuhr aus der Presse, dass die versprochene Sanierung der Dorfkirche auf unbestimmte Zeit verschoben und der Friedhof aufgegeben werden solle. Da entschloss sich Simon, eine Lektoren-Ausbildung zu machen, um selbst Gottesdienste halten zu können. Im November 2018 gründete er mit einer Handvoll engagierter Wilmersdorfer einen Förderverein, um die marode Scheunenkirche langfristig zu retten. Außerdem freut er sich, dass die Dorfkinder die Kirche mehr und mehr in Besitz nehmen und zu einer belebten Kinderkirche machen.

Bei Bettina Locklair (57) hat es etwas gedauert, bis sie sich in Flemsdorf engagierte. Sie wohnt seit 2013 etwas oberhalb des Dorfes auf einem Hof und ist vermutlich die einzige Katholikin unter den 180 Einwohnern. „Ich habe zunächst mein Leben gelebt, war einfach hier im Dorf, wenn ich nicht als Pendlerin unterwegs war“. Sie arbeitete damals als Juristin beim Erzbistum Berlin. Als das Dorf 2017 die Einwohner aufrief, das 750-Jahr-Jubiläum zu organisieren, ging sie zur Versammlung und bot ihre Mitarbeit an. Sie nähte unter anderem Wimpel für das Fest, doch wichtiger war, dass ihr die Misere der Dorfkirche bewusst wurde, die eine äußerst wertvolle barocke Ausstattung hat. Denn das Dorf-Fest fand auch in der Kirche statt. Also gründete sie einen Förderverein, der das Gotteshaus sanieren soll. „Ich finde, jeder Ort braucht eine Mitte und diese fehlt dem Straßendorf, also braucht Flemsdorf eine schöne Kirche.“ Ähnlich wie in Wilmersdorf stiftete der Förderkreis Alte Kirchen auch hier ein Startkapital von 2.500 Euro.

Macht es einen Unterschied, ob die oder der Neue im Dorf Ossi oder Wessi ist, hatte es der geborene Sachse Winter einfacher als die Westdeutschen Locklair und Simon? Die Antworten sind nicht eindeutig. „Kann sein, dass es ein Wessi hier schwerer hätte“, meint Winter. „Ich weiß aus eigener Erfahrung vermutlich besser, wie die Leute hier ticken, denn Stegelitz war geprägt von der zentralen Agrar-Planwirtschaft. Ab 1990 kam eine weitere „Planwirtschaft“, die das noch vorhandene dörfliche Leben zusammenbrechen ließ. Kein Laden, kein Bäcker, keine Kneipe, der eine hat Arbeit, der andere nicht. Die Menschen waren froh, dass hier einer die Initiative ergreift.“ Es sei doch, so fügt er hinzu, wegen der vielen „Glücksritter“ der letzten Jahrhunderte verständlich, wenn die Menschen bei einem Neuen erst einmal misstrauisch seien, egal ob der Ossi oder Wessi sei. „Selbst wenn man ihnen auf Augenhöhe begegnet, also nicht überheblich ist, darf man nicht erwarten, dass sie einen umarmen.“

Die Ossi-Wessi-Debatte nervt Günter Simon „Ich habe keine Lust auf das Thema.“ Wer mit offenem, freundlichem Blick auf die Menschen zugehe, der finde schnell Kontakt, einerlei, wo er herkomme. Im Übrigen gebe es überall Menschen, die einen nicht mögen. Damit müsse man leben. Auch Bettina Locklair glaubt nicht, dass es im Dorf eine Rolle spielte, ob sie aus Osnabrück oder aus dem Osten stammt. Sie habe zumindest solche Animositäten nicht wahrgenommen. „Natürlich wird man neugierig betrachtet und taxiert, aber das gibt’s doch bei jeder oder jedem Neuen im Dorf.“In den kommenden Jahren wird es vermutlich mehr Neue in den Dörfern geben, wenn die Babyboomer in Rente gehen. Zwischen 1955 bis 1965 hatte Deutschland die geburtenstärksten Jahrgänge; allein 1964 waren es 1,3 Millionen. Nach einer Studie der Körber-Stiftung waren 2014 fast fünfzig Prozent der Deutschen zwischen 50 und 64 Jahren ehrenamtlich aktiv im Sport, im sozialen Bereich oder in Kirchen und anderen religiösen Gemeinschaften. Die Autoren der Studie erwarten, dass künftig dieses Engagement noch umfangreicher sein wird, wobei die kommende Rentnergeneration gesünder und auch besser gebildet ist. Allerdings werde die Aktivität vermutlich anders aussehen, heißt es in der Studie, die Ehrenamtlichen würden nicht mehr das klassische Vereinswesen bevorzugen. „Sie ziehen es häufig vor, sich in zeitlich begrenzten Initiativen und Projekten mit klarem Ziel zu engagieren.“

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