von Eva Gonda

Das Schlummerkissen des kleinen Gottlieb

In der Derwitzer Kirche wurde die in Brandenburg wahrscheinlich umfangreichste Sammlung von Denkmälern des Totenkronen-Brauches entdeckt

Eva Gonda ist Journalistin.

Schlummerkissen für Gottlieb Wolff; Foto: Sylvia Müller-Pfeifruck

Als der kleine Gottlieb starb, war er gerade erst zwei Jahre alt. Das ist 170 Jahre her. Aber die Erinnerung an ihn wird wachgehalten im Dorf Derwitz, heute Ortsteil der Stadt Werder (Havel). Sein besticktes Schlummerkissen wurde erst vor kurzem auf dem Dachboden der alten Dorfkirche gefunden, zusammen mit weiteren Zeugnissen eines längst vergessenen Volksbrauchs der Erinnerung an geliebte Verstorbene. 17 solcher Gedächtnismale – Totenkronenbretter und Schlummerkissen – kamen hier bei Vorbereitungen für die Kirchensanierung ans Licht. Ein Fund in diesem Umfang ist bisher einzigartig in Brandenburg. 

Der Totenkronenbrauch war in unserer Region vor allem im 17. und 18. Jahrhundert, aber auch später noch, weit verbreitet. Starb ein Mensch, dem zu Lebzeiten eine christliche Hochzeit nicht beschieden war, so wurde sein Begräbnis als „Himmelshochzeit“ ausgerichtet. Frauen, aber auch Männer, erhielten eine reich verzierte Krone als Ersatz für den entgangenen Brautschmuck und als Symbol der Tugend, Keuschheit und Jungfräulichkeit. Als Repräsentationsstücke wurden sie auf Kissen hinter dem Sarg hergetragen und erhielten dann ihren Platz in der Kirche – in verglasten Holzkästen oder auf beschrifteten Konsolbrettern, die Auskunft über den Verstorbenen gaben. Oft war der Nachruf in Reime gefasst: „Früh musst ich meinen Pilgerstab / ablegen an das kühle Grab; / früh rief mich durch den sanften Tod / mein Gott aus aller Angst und Noth; / wo wir dann alle einst vereint, / wen auch der letzte ausgeweint, / von Gott euch durch die kühle Gruft, / zu Freud und Seligkeiten ruft.“ So steht es geschrieben in Erinnerung an den Junggesellen Johann Friedrich Kuckuk, der 23-jährig im Jahr 1843 starb.

Besonders anrührend aber sind die kleinen Schlummerkissen. Sie erinnern an früh verstorbene Kinder und in ihrer liebevollen Gestaltung klingen noch Leid und Trauer der Familien nach. Für das Kissen des kleinen Gottlieb hatte man helle Seide gewählt. Name und Lebensdaten sind in gedrehter Schnur und kleinen Perlen aufgenäht, gerahmt von einem gestickten Kranz mit Blättern und Blüten. Neben Rüschen und Schleifen gehörten einst auch farbige Bänder zum Schmuck. Und schließlich hatte man einen kleinen Zweig Vergissmeinnicht aus Papier und Stoff dazugelegt. 

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts prägten diese Gedächtnismale in großer Vielzahl die Stimmung in vielen märkischen Kirchen. Man wusste sich im Gottesdienst umgeben von Erinnerungen an seine Vorfahren und ihre Wertschätzung. Mancher Geistliche sah darin allerdings eine Ablenkung der Gläubigen, ein unangemessenes Prunken. Als dann in der Gründerzeit viele Kirchen umgebaut oder renoviert wurden, landeten die meisten „Staubfänger“ als Brennholz im Ofen oder als „Gerümpel“ auf Dachböden und in Schuppen, wo sie bald vergessen wurden. 

Dorfkirche und Lilienthalgedenkhaus in Derwitz; Foto: Eva Gonda

Dass all diese Derwitzer Schätze, jahrzehntelang unterm Kirchendach gestapelt, noch relativ gut erhalten sind, hat sicher mit der natürlichen guten Durchlüftung von Dachböden zu tun. Dennoch wurden sie zunächst in die Hände erfahrener Restauratoren gegeben. Und ihre Entdeckung hatte sogleich die Kunsthistorikerin Dr. Sylvia Müller-Pfeifruck auf den Plan gerufen, Expertin auf dem Gebiet des Totenkronenbrauchs. Mit ihren Forschungen und Veröffentlichungen holt sie längst vergessenes Wissen um den Brauch und seine Zeugnisse zurück in unsere Zeit. Sie begleitete auch den weiteren Werdegang der Derwitzer Funde, dokumentierte die Restaurierung und stöberte in Kirchenbüchern nach näheren Angaben über die Verstorbenen. 

Inzwischen sind die Konsolenbretter und Schlummerkissen sachkundig restauriert und warten nun auf ihre gebührende Präsentation. Dafür haben ihnen die Restauratoren jeweils strikte Auflagen mitgegeben: Vor Sonnenlicht schützen, im verglasten Kasten aufbewahren, liegend ausstellen… Und für alle gilt: Trockene Umgebung! Damit aber ist schon das erste, ganz entscheidende Problem angesprochen. Die spätmittelalterliche Feldsteinkirche, erbaut um 1500, ist wie viele ihrer Art feucht. Gegen das sich an den Innenwänden niederschlagende Kondenswasser lässt sich schlecht ankommen.

Konsolbrett für Johann Friedrich Kuckuk; Foto: Sylvia Müller-Pfeifruck

Heinz Grützmacher ist Vorsitzender des Förderkreises Lilienthalkirche Derwitz und weiß als Ur-Derwitzer um all diese Probleme. Der Verein gründete sich 2018 unter dem Motto „Wir heben ab – die Kirche muss im Dorf bleiben“. Name und Motto sind eine Erinnerung an den Flugpionier Otto Lilienthal (1848 bis 1896), der in dieser Gegend seine ersten Versuche gestartet hatte und dessen Vermächtnis in Derwitz hochgehalten wird. Erstes Ziel des Vereins ist die Sanierung der Kirche. „Begonnen hatten wir mit der Besichtigung des Dachstuhls“, erzählt Grützmacher. „Die Freude über die unerwarteten Entdeckungen unterm Staub der Jahrzehnte war groß, aber auch der Schrecken über den maroden Zustand des Dachs.“ Schnelle Abhilfe ist dringend – und teuer. 

Unter den ersten Mutmachern war der Förderkreis Alte Kirchen Berlin-Brandenburg, der mit einem Startkapital von 2.500 Euro half, weitere Sponsoren und Unterstützer zu werben. Nun ist auch der Antrag auf LEADER-Fördermittel in Höhe von 250.000 Euro bestätigt, sodass in diesem Frühjahr mit der Arbeit begonnen werden kann. „Dabei sind wir vom Kirchen-Förderkreis nicht allein“, sagt Heinz Grützmacher. „Wir in Derwitz ziehen alle an einem Strang. Auch die Kirchengemeinde und der Ortsbeirat stehen hinter dem Projekt, Feuerwehr und Freizeitverein machen ebenso mit.“

In Gedanken ist Heinz Grützmacher schon in der Zeit nach Abschluss der Sanierung von Dach und Kirchenraum. Er sieht die Kirchentür offen nicht nur für Gottesdienste, sondern auch für vielfältige kulturelle Angebote. Dabei ist unter anderem an eine enge Zusammenarbeit mit dem kleinen Gedenkhaus für Lilienthal gedacht, das unmittelbar vor dem Kirchengelände steht. Es wurde 1991 für eine sehr informative Ausstellung über den Flugpionier erbaut und hat schon viele Interessierte auch aus der weiteren Umgebung nach Derwitz geführt.

Mit der Präsentation der wiederentdeckten Zeugnisse eines alten christlichen Brauchs hätte der Ort eine zweite, ganz besondere Attraktion. Noch aber ist völlig offen, wo die Totenkronen und Schlummerkissen unter den erforderlichen klimatischen Bedingungen ausgestellt werden können. Die Derwitzer wünschen sie sich zurück in ihre Kirche, wo sie einst das Andenken an die Vorfahren bewahrten. Auf jeden Fall aber sollten sie im Ort bleiben. Noch heute findet man in Derwitz Namen, wie sie auf den Konsolbrettern oder Kissen verewigt sind. Auch den Familiennamen des kleinen Gottlieb.

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