von Rudolf Bönisch

Nach der Reformation übermalt 

Die Werktagseite des spätgotischen Retabels in der Dorfkirche Dallmin (Prignitz)

Rudolf Bönisch ist Diplom-Geologe. Er war seit 1992 Initiator und Leiter zweier internationaler Orgelmusikreihen in der Niederlausitz. Seit mehreren Jahren beschäftigt er sich mit sakralen Bildwerken in Ost- und Mitteldeutschland und kann auf eine umfangreiche Publikationsarbeit verweisen.

Die Festtagsseite des spätgotischen Flügelaltars in der Dorfkirche Dallmin; Fotos Rudolf Bönisch

Die Feldsteinkirche im Dorf Dallmin in der westlichen Prignitz, nahe der Grenze zu Mecklenburg, wurde Ende des 13. Jahrhunderts erbaut. Der ursprünglich eingezogene Chor erhielt 1710 die Breite des Kirchenschiffes. In diesem Zusammenhang dürfte der Triumphbogen zwischen Chor und Saal abgetragen worden sein. Ebenfalls wurden in dieser Zeit die Fenster vergrößert. Das Gebäude hat einen Fachwerkturm mit geschweifter Haube und offener Laterne. Auf der Wetterfahne von 1708 wurden die Jahreszahlen 1825 und 1989 ergänzt. Drei Glocken hängen in einem Glockenstuhl vor dem Kirchengebäude. Der Innenraum hat eine Balkendecke mit Ornamentmalerei, die 1934 im Mittelteil auf einer Holztonne fortgeführt wurde. Zu beiden Seiten des Altars sind noch die ehemals über das ganze Schiff reichenden Emporen erhalten. In der Kirche wird eine um 1400 entstandene Kasel aufbewahrt. Aus dem Jahr 1549 stammen Fragmente vom ersten Gestühl. Der 1982 neugefasste und unter der Empore hängende Taufengel ist 1710 datiert. Im Raum befindet sich ein hölzernes Totenschild für Detlof von Winterfeldt (1527 – 1611). Ein weiteres Holzepitaph stammt aus dem Jahre 1659. Die bedeutsame Orgel wurde 1722 – 24 vom Salzwedeler Orgelbauer Anton Heinrich Gansen erbaut, der auch das Instrument in Krevese (Altmark) schuf. Der Altar, ein Portikuskanzelaltar, wurde in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts errichtet. Das war die Zeit, in der nur noch vereinzelt oder gar keine biblischen Bilder mehr am Altaraufsatz angebracht wurden. Dafür ist die Kanzel gleich in den Altar eingebaut, sodass das Sakrament des Abendmahles und die Wortverkündigung an einer Stelle konzentriert sind. Eine geschnitzte Figur des Moses, der von Gott die Gesetzestafeln erhielt, trägt die Kanzel. Trägerfiguren an Kanzeln über der Mensa sind selten. Parallelen gibt es in Gulow (Prignitz), Schönberg (Altmark) sowie in Vieritz und Rhinow (Havelland). Der Kanzeldeckel, in dessen Innenseite sich die Taube als Symbol des Heiligen Geistes befindet, wird von zwei Figuren getragen, die ihre Attribute verloren haben. Es könnten die beiden Apostel Petrus und Paulus dargestellt sein. Auf dem Schalldeckel wurde eine Flammenvase angebracht. Derartige Gefäße wurden nur in einer sehr kurzen Zeitspanne zugefügt. So zeigt der von 1726 bis 1743 zum ersten Mal errichtete Bau der Dresdner Frauenkirche mehrere große Flammenvasen. Auch gibt es diese zum Beispiel in Quitzöbel, Zernitz und Groß Werzin. Leider sind die genauen Erbauungsdaten dieser Kanzelaltäre meist unbekannt, sodass für eine zeitliche Einordnung Vergleiche zu anderen Kirchen herangezogen werden müssen. Für Dallmin kommt dafür die Zeit um 1730 in Betracht.

An der Vorderseite der Kanzel, an der zu dieser späten Bauzeit keine Bilder der Evangelisten oder des Salvator Mundi angebracht wurden, die Felder dafür aber noch vorhanden sind, ist ein Kruzifix befestigt. Dieses Kreuz mit dem geschnitzten Korpus Christi hat an den vier Enden Rundfelder mit den Evangelistensymbolen: Links der Engel für Matthäus, rechts der Stier für Lukas, unten der Löwe für Markus und oben der Adler für Johannes. Alles sind geflügelte Wesen. Dieses Kruzifix, auf das man nicht verzichten wollte, stammt aus spätgotischer Zeit. Möglicherweise war es das Triumphkreuz der vor der Erweiterung 1710 vergleichsweise kleinen Kirche. An anderen Orten der Umgebung, so in Postlin, Sargleben, Pröttlin und Milow (Mecklenburg), wurden die nach der Reformation nicht mehr benötigten Triumphkreuze an der Predella, in oder über den erhalten gebliebenen spätgotischen Flügelretabeln angebracht und fanden so Verwendung als evangelisches Altarkreuz.

Gemälde Christus in Gethsemane, Geißelung, Ecce homo
Auferstehung Christi auf der Werktagseite des Retabels in der Dorfkirche Dallmin (um 1670) 

Das Dallminer Retabel befindet sich heute an der Nordwand der Kirche unter der Empore. Der Schrein ist 102,0 cm hoch, 92,0 cm breit und 14,0 cm tief. Die beiden Flügel sind 101,5 cm hoch, 46,0 cm breit und 8,5 cm tief. Im Schrein stehen unter Baldachinen und vor Nimben im Goldgrund Maria mit dem Kind, begleitet von Katharina und einem Bischof. In den beiden Altarflügeln befinden sich je in zwei Reihen die Figuren der Apostel, ebenfalls unter geschnitzten Baldachinen. Oben links – jeweils vom Betrachter aus gesehen – stehen Petrus mit dem Schlüssel, Johannes mit dem Kelch, Jacobus Minor (?) und oben rechts befinden sich Bartholomäus mit einem Messer, Andreas mit dem Kreuz und Matthias. Unten links sind Philippus mit dem Doppelkreuz, Judas Thaddäus mit der Keule und Simon mit der Säge sowie unten rechts Jacobus Major mit der Muschel am Hut, Thomas (?) und Matthäus mit Schwert und Geldbeutel angeordnet. Nur durch Vergleiche mit Apostelretabeln in der Umgebung können die Figuren identifiziert werden, was vielleicht aufgrund in späterer Zeit getauschter oder fehlerhaft ersetzter Attribute für Dallmin nicht ganz vollständig gelungen ist. Apostelretabel sind selten, sodass hier nur Pröttlin und Postlin in der Prignitz und Raduhn, Bernitt und Lübsee in Mecklenburg vergleichend herangezogen werden können. Im Retabel Pröttlin waren die Apostel ursprünglich beschriftet.

Ausschnitt aus dem Kupferstich der Geißelung Christi von Zacharias Dolendo nach Karel van Mander 1596 – 98 

Die Ansicht des Retabels mit zugeklappten Flügeln, die sogenannte Werktagsseite, wurde in der Spätgotik oft mit Verkündigungsszenen bemalt. Heute ist eine über beide Flügel reichende Verkündigung noch am Retabel in Postlin zu bewundern. Die beiden Flügelaußenseiten des Dallminer Retabels wurden mit je zwei Gemälden versehen, die wohl in Übermalung des gotischen Motivs entstanden. Es handelt sich dabei um vier ausgewählte Motive der Passion Christi. Mit dem Gebet am Ölberg beginnt die Bildfolge und wird mit der schmerzhaften Geißelung fortgesetzt. Die Vorstellung Christi verdeutlicht die Worte des ihn verurteilenden Pontius Pilatus „Seht welch ein Mensch“ und das „Kreuziget ihn“ der Jerusalemer. Ein Bild des Gekreuzigten musste nicht für den Altar ausgewählt werden, da das darüber hängende Triumphkreuz den Tod Christi eindrucksvoll vor Augen führte. Ohne ein Gemälde der Auferstehung und somit der Osterbotschaft würde es kein evangelischer Altar sein. 

Die beiden oberen Bilder der Geißelung und des Ecce homo wurden ausschnittsweise aus Kupferstichen kopiert, die Zacharias Dolendo nach heute in Rotterdam erhaltenen Vorzeichnungen von Karel van Mander stach. Karel van Mander, der 1548 geboren wurde und 1606 in Amsterdam starb, war Schriftsteller, Maler und Zeichner, Mitglied der Mennoniten und gehörte einer altflämischen Gemeinde an. Das Blatt der Geißelung zeigt noch mehr dem Geschehen beiwohnende Personen, darunter auch Pilatus. Dieser wird vor seinem Palast mit dem dornengekrönten Christus gezeigt. Das aufgewühlte Publikum hat der Künstler frei gemalt, denn auf dem Stich von Dolendo ist ein anderes zu sehen. Das Gebet Jesu im Garten Gethsemane vor der Stadt Jerusalem mit den drei schlafenden Jüngern Johannes, Petrus und Jakobus und auch die Auferstehung Christi vor den schlafenden Wächtern sind Kopien nach Matthäus Merian. Dieser Schweizer Kupferstecher veröffentlichte 1627 in Frankfurt am Main seine Illustrationen zum neuen Testament, die auch in die Merian-Bibel in Übersetzung von Martin Luther übernommen wurden. Wohl formatbedingt hat der Maler der Auferstehung den Inhalt des Stiches von Merian, der von 1593 bis 1650 lebte und auch durch seine zahlreichen Stadtansichten bekannt wurde, umgestellt und auf das Wesentliche reduziert. Warum für die Bemalung des Retabels Kupferstiche zweier Inventoren und Stecher Verwendung fanden, lässt sich nicht herausfinden. Somit zeigt das geschlossene Retabel die Werke von zwei in Europa bedeutenden Künstlern protestantischer Prägung. Da die graphischen Vorlagen von Merian erst 1627 entstanden und zu dieser Zeit der Dreißigjährige Krieg in Deutschland tobte, konnten die Kopien erst nach dem Krieg mit von der Dallminer Gemeinde gesammeltem Geld in Auftrag gegeben werden.


Ausschnitt aus dem Kupferstich des Ecce Homo von Zacharias Dolendo nach Karel van Mander 1596 – 98 

Die zur diesjährigen Spendenaktion „Vergessene Kunstwerke brauchen Hilfe“ ausgewählte Dorfkirche Dallmin gibt in hervorragender Weise Blicke in die gottesdienstliche Liturgie seit dem Mittelalter frei. Mit dem reich bestickten ärmellosen Messgewand, entstanden um 1500, ist ein gottesdienstliches Kleidungsstück des Priesters in der Dorfkirche erhalten, was es anderen Orts nur noch in Dommuseen gibt. Mit der darauf befindlichen Stickerei sind Kaseln aus Tangermünde, Ampfurth, Poppenreuth bei Nürnberg, Fulda und Gurk in Kärnten gut vergleichbar. Abgebildet sind der gekreuzigte Christus mit seiner Mutter Maria und dem Jünger Johannes, Gottvater sowie die Apostel Petrus und Paulus. Die Kasel, deren Herstellungsort Nürnberg gewesen sein könnte, dürfte sicherlich noch bis 1600 zur gottesdienstlichen Kleidung gehört haben. Zu dieser Datierung sind mehrere bildliche Darstellungen der zeitgenössischen Austeilung des Abendmahles in beiderlei Gestalt an Altaraufsätzen bekannt. Das Triumphkreuz gehörte ab Ende des 15. Jahrhunderts zur Kirchenausstattung in Dallmin. Auf der Mensa im Chorraum der Kirche stand ebenfalls seit dem Ende des 15. Jahrhunderts das Retabel mit der Figur der Maria und dem Christkind in der Mitte. Während an den Enden des Triumphkreuzes die Symbole der vier Evangelisten sichtbar sind, zeigten sich der Gemeinde zumindest in der Festtagsmesse die geschnitzten zwölf Apostel in den Flügeln des Retabels. Dieses stand auch nach der Reformation und die Zeit des Dreißigjährigen Krieges hindurch vor der Gemeinde und zeugt somit von einem allmähligen Übergang zum Protestantismus ohne Bildersturm. Mit einer Neufassung des geschlossenen Retabels mit Bildern der Passion und der Auferstehung Christi um 1670 wird dieser Ausstattungsgegenstand noch bis etwa 1730 weitergenutzt. Erst etwa zwanzig Jahre nach der Vergrößerung des Kirchenraumes 1710 wird ein Kanzelaltar errichtet, der mit Moses als Trägerfigur des Predigtstuhles auf die Geschichte des Volkes Israel und die zehn Gebote verweist. Mit der Zusammenfügung von Wort und Sakrament am Altar verlor das Retabel zwar seine Predella, wurde aber weiterhin bis in unsere Zeit an der Seitenwand des Chorraumes aufbewahrt. Nun liegt es bei uns, das liturgisch für zahlreiche Generationen christlicher Gemeinde bedeutsame Retabel mit Bildwerken der Heiligenverehrung und der Heilsgeschichte weiterhin zu bewahren. Die ausgerufene Spendenaktion „Vergessene Kirchen brauchen Hilfe“ des Förderkreises Alte Kirchen, der Landeskirche und des Landesdenkmalamtes unterstützt dieses in vorbildlicher Weise.

Kupferstich Christus in Gethsemane von Matthäus Merian 1627 
Kupferstich Auferstehung Christi von Matthäus Merian 1627 
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